YORK FREITAG
Die Brechung des romantischen Affekts. Zum Lyrikdebüt von Manuela Bibrach.
In einem während der Coronajahre gegebenen Interview bekennt sich Manuela Bibrach zu Geduld und Gelassenheit als Tugenden aller Lebensbereiche. Selbstredend auch der Poesie. Die Dichterin,
Jahrgang 1971, bisher mit Beiträgen in Zeitschriften und Anthologien hervorgetreten sowie mit Preisen und Stipendien bedacht, hat ihrem Debüt viel Reifezeit gelassen. Der Titel, Radios mit
Naturstimme, dem Text »Die Sittiche« entnommen, erfasst prägnant das augenzwinkernd vorgebrachte Ironisch-Bittere des den Band bestimmenden Tons; zahlreiche weitere titeltaugliche Stellen
verweisen auf das Wohldurchdachte des Projekts: »Schneeglöckchen tonlos«, »Anomalien mit Potential«, »Genuss der letzten Kapitulation«, »das Licht am Ende / meines
Tunnelblicks«, »die Geräusche des Urwalds / auf Acryl«. Hier kann Bibrachs Topos, eine wenig natürlich erscheinende Natur, üppig sprießen. Und zwar ganz im Einklang mit dem Doppelwesen
postromantischer Strömungen, die der Natur nicht weiter als Hort der Musen huldigen, ihr nichtsdestoweniger Tribut zollen und sie – als Teil ihrer Liaison mit der Technik, aus der sie, so der
Subtext der anklagefreien Klage Bibrachs, schwerlich herauskürzen ist – zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen. Eine poetologische Selbstauskunft gibt die Lyrikerin in »Schnappschuss ‘86«, den
sie als »ideal / komponiert« apostrophiert: »Mutter Tante ich drei nackte Nymphen / einander zugeneigt«, doch ungebetene Reize, hier »das kreuzende Ruder im Vordergrund / und der Vorfall bei
Prypjat / stören die Harmonie«. »Im Rohraum«, ein Titel voller grantiger Latenz, stecken »Instrumente zur Vermessung / von Wahrheit und Wahrnehmung«; selbst »der Schädel im Regal wirkt /
enttäuscht«.
Was den Menschen überdauert, sind die Artefakte seines Wirkens: »der Zeiger / der Uhr er will länger ticken als ich«. Die Sicht, vielleicht Einsicht, der zum Schaffen Geschaffene habe sich selbst
überlebt, gipfelt in der schieren Bestandsaufnahme: »eine Woge spült / meinen Körper an Land / der Rückstrom glimmt und tanzt«. Das hat nichts Gefühliges; die Vision kommt weder larmoyant noch
lakonisch, sie kommt mit ungeschöntem poetischen Unterdruck daher, der das Ansinnen, Territorien der Reinheit zurückzuerobern, mit lyrischer Härte panzert: »ja ja: der Himmel / eine Landschaft
wie bei Stefanek / mit dem Messer gezogen / Baumschablonen«. Agonie lässt sich probat via Distanzhaltung verniedlichen: »aus der Ferne / ist die Welt nicht viel mehr / als ein welliger Plan /
ohne Sonne und Krug«, nicht zuletzt dem Tod gegenüber: »der Soldat / liegt ohne Augenlicht / so zeitgemäß / vorm Horizont«. Hierüber schließlich zu »Schreiben ist / Tanzen um einen Gegenstand /
reines Entzücken«.
Versöhnliche und dringlichere Töne zerreiben das idealtypische Bild, degradieren es zu einer Art nature morte.
Die ästhetische Komponente der Bildstörungen erinnert an die stilistischen Verfahren der Neuen Leipziger Schule um Nachwendevertreter wie Rayk Goetze, Neo Rauch, Miriam Vlaming. »Stimmungsbilder,
die eine melancholische Gelassenheit im status quo zeigen«, fasst es der Katalog zu der Ausstellung »made in Leipzig«, die 2007 im Schloss Hartenfels in Torgau zu sehen war.
Die im Sächsischen beheimatete Manuela Bibrach scheint ihre Wortkunst ganz in deren Geist zu konzipieren. Die Sequenz »Der Himmel hat kein Gewicht / auf dem Balkon« etwa scheint die wuchtig
entrückenden Ölfirmamente Wolfgang Mattheuers, eines der Väter der jüngeren Neuen Leipziger, nachzuspüren. Bibrach beherrscht die Brechung des romantischen Affekts, noch ehe er sich einstellen
kann: »Am Bach umrahmt / zu beiden Seiten
von Beton« nehmen wir bereits als Unbild wahr, verstärkt wird es durch »das flache Nass«, das »führt den Schmutz / der Stadt« und »wir spielen nur es könnte / unsern Durst mit klarer Kälte /
löschen«; mit dem Exhibitionisten »auf der Brücke«, der »seine Hose öffnet lacht / auf diese Handvoll Fleisch«, ist die Abkehr vom Idyll perfekt. Da erscheint es überflüssig, den Brechtschen
Imperativ, den das Versfeld allenthalben atmet, zu
paraphrasieren: »kein romantisches / Glotzen«, zumal in dem Beispiel, das mit »Dem Himmel die Sterne / zurücküberweisen« einsteigt. Noch dem harmlosesten Tun wie »den Wasserspiegel zu /
zerbrechen« wohnt sprachbildlich die Idee der Schändung inne.
Die Autorin leistet Fingerzeige: »Keile zu treiben in die Stille« des »Orbits«, wo sich »der Ritter Bibrach«, ihr Alter Ego, zwischen »Furcht / was mich verfolgt« und »Angst ist eine Illusion«
gesellt: »meine Rüstung / ist aus Licht sie schützt mich / schützt mich nicht«. Dieses Zwiebild zeugt von Schicksalsergriffenheit; dem Brecht-Postulat, der Zuschauer sei zu desillusionieren und
in Distanz zum Bühnengeschehen zu halten, wird mit Übereifer
begegnet: »ich bin / mein eigener Beobachter«. So in III aus »Shit Box«, das Flucht und Selbstzucht zusammendenkt, ein Text übrigens, für den Bibrach mit vier weiteren dieses Zyklus 2018 der 3.
Feldkircher Lyrikpreis zuerkannt wurde. Die psychischen Errors der ebenfalls enthaltenen Sammlung »Defekte« zeichnen die
Sphäre zwischenmenschlicher Missnorm, die in sich Ein- und von der Welt Ausgeschlossene unter »innerliche / Wechselspannung« setzt. In »Fehlercode: F 0« kennt »Schwester 0« angesichts
bockbeiniger Fälle kein Pardon: »denn Jesus in Klein-Auschwitz ist sie / sagt sie selber sicher nicht« – und wird als Apologetin humiler Makellosigkeit und bekennende Empathienull gezeichnet.
Die meisterlich mit narrativen Elementen durchsponnenen acht »Briefe an M.« sind gewiss der dichterische Höhepunkt des Bands. Ein Ich fabuliert eine Moritat – kühl wie der See, unter dessen
Spiegel es sein Opfer drückt: »Fische […] hören dich nicht / auch wenn du den Mund aufreißt«. Die Beziehungstat und die gemeinsame Zeit vor ihr, die es, verhalten nostalgisch gestimmt, Revue
passieren lässt, geraten zum psychogramm-artigen Bekenntnis einer »Ophelia«, die einen Gegenentwurf zum Original insofern darstellt, als hier sie es ist, die den Du-Verlust zumindest physisch
überlebt. Ihr Zutun freilich in Abrede stellend: »mich hat die Tiefe / nie gelockt dich schon«, es mit dem Argument Entfremdung gewissermaßen rechtfertigend: »haben wir uns überhaupt /
gekannt«,
und schließlich einräumend: »im Aufenthaltsraum das Aquarium […] die Welse […] erkennen / meine Schuld«, greift das Fazit zur pathologischen Seelengestimmtheit umso wirkmächtiger: »die Produkte
des Geistes / ohne Worte verendet«. Der Zyklus lässt sich auch als Gegenentwurf zum Opheliakomplex nach Gaston Bachelard lesen, der im Wasser allein »das Element der Verzweiflung und des
ausgesprochen weiblichen Todes« symbolisiert sieht.
Solcherlei Geschlechtersentiment begegnen wir in Radios nicht und Spannung wird Lesesog, der Leser zum in der Naturstimme froh Ertrinkenden: Enjambements, der Verzicht auf Interpunktion, die oft
ins Gedicht integrierten Titel sind Kunstgriffe, die es trotz linksbündiger Setzung der vielfach knappen, dabei präzisen Verse als Fließtext wahrnehmbar machen – ohne je populär zu werden zudem
des meist gleichgängigen Metrums wegen. Hinzu kommt, dass Bibrach dezidiert auch intratextuell arbeitet: Motive, ja Worte vom Vorgedicht erscheinen im nachfolgenden in neuer Umgebung, häufig
bereits im Titel, und bilden, Gedicht um Gedicht lose zu immer neuer Fortschreibung vernähend, Synapsen, die ihrerseits zu rauschhafter Rezeption hinschalten.
In Düsternis entlässt uns die Dichterin schonungslosen Mäanderns zwischen Tristesse und Keimhaftem indes nicht. So wie sie schon in der ersten Abteilung mit »trag meinen Schlaf / ein murmelndes
Kind / leise ins Bett« selbst aus einem Wiegenlied kleine große Lyrik macht, so öffnet sie gegen Ende Raum für Sehnsucht nach Stabililtät in der Ewigkeit, und sei es im Abbild: »van Goghs
Mandelblüten / können nie vergehen«. Hier dämmert ein energetischer »Himmel / dessen Blau die Kälte unser / auszutreiben hofft«, was die Perspektive der tradierten Anrufung »Vater unser« umkehrt,
Metanatur als auf Sendung etabliert. Ganz im Gegensatz zu Raoul Schrott, der die Natur als »indifferent« fasst, rechnet Bibrach mit deren Organisch-Wesenhaftem, mit deren Charakter und
Lebensgier.
»Eines Morgens«, so hebt das Schlussorakel des Bands an und offeriert die »Klarheit geheilter / Korallen«. Dies ist mehr als ein troststiftender Akkord, der aus dem Urbaustoff »Ozean« steigt.
Feingespür verraten auch Pètrus Akkordéons Grafiken, die die auf sieben Kapitel verteilten 72 Gedichte hintergründig zubeißend kommentieren. Die Bleistiftarbeiten erscheinen auf Bibrachs
Deutungslyrik hinkomponiert: groteske Ungetüme, seltsam unfertig
und, selbst wenn vieläugig, seltsam blicklos – eher noch dass sie Augen, wie auch Münder und Zahnreihen, auslagern. Am eindrücklichsten gespiegelt ist Bibrachs Vexierpanorama vielleicht in
Akkordéons vignettenhaftem Arrangement von Totenkopfblumen, einer paradoxen Bildmetapher, die – titeltauglichen – Klartext spricht.
Manuela Bibrach: Radios mit Naturstimme.
Gedichte, mit Grafiken von Pètrus Akkordéon
und einem Nachwort von Patrick Wilden, dr.
ziethen verlag, Oschersleben 2023, Hardcover,
96 Seiten, 20 Euro, ISBN 978-3-86289-224-2
Laudatio von Anna Zepnick auf Manuela Bibrach anlässlich der Verleihung des Klopstock-Förderpreises
durch das Land Sachsen-Anhalt am 4. Juli 2024 in Quedlinburg
dichterin
(für manuela bibrach)
I
wir saßen am biertisch
sie rauchte ich sprach
eine katze mobbte die spatzen
und der fleischer brachte geselchtes
ich kaute sie rauchte
eine nuss fiel zu boden
und der rabe hackte die schale
ich lachte sie trank ihren vierten kaffee
dann schrieb sie mit kohle ans haus
ich schrieb mit den fingern in die
schleimspur der schnecken
ihre augen zuckten
und ich wusste
worüber sie schwieg
Liebe Manuela,
diese Zeilen beschreiben am besten unser Verhältnis, das ein kollegiales und doch sehr freundschaftliches, von einem unausgesprochenen Grundeinverständnis gekennzeichnetes ist.
Kennengelernt haben wir uns vor knapp zwei Jahren bei einem Lyrik-Workshop. Schnell fanden wir heraus, dass wir die Geburtsstadt - Dresden - und beinahe den Jahrgang - 1971 - teilen, die
Begeisterung für Märchen, für Musik und Rhythmus in der Sprache, für Bücher an sich (du wolltest Bibliothekarin werden).
Dein Weg zu diesem Lyrikworkshop in Vollradisroda/Thüringen war ein langer. Seit 2007 hast du in Arbeitskreisen, z.B. der TexTour an deinen Gedichten und Texten gefeilt, hart gerungen mit Kritik,
mutig widersprochen, gelernt, ausprobiert, dich ausgetauscht mit Kollegen wie Patrick Wilden oder Kerstin Becker.
Die sich nach und nach einstellende Anerkennung schlug sich nieder in Veröffentlichungen. Verschiedenste Literaturzeitschriften wären zu nennen, die Anthologie zum Feldkircher Lyrikpreis, die
Bonner Lyrikpreisanthologie, Ostragehege, Signaturen, das Jahrbuch der Lyrik.
Du hast Preise bekommen: den 1. Preis des 14. Irseer Pegasus, den 3. Platz beim Feldkircher Lyrikpreis, du gewannst den 4. Dresdner Miniaturen-Wettbewerb.
2018 bis du mit einem Stipendium des Freistaates Sachsen nach Breslau gereist und begannst dort die Arbeit am Manuskript für deinen Debütband. Doch es fand sich kein Verlag. Da braucht man langen
Atem, man muss die Verzweiflung abwehren, die Selbstzweifel, du hast immer weitergeschrieben, es hat dich immer weitergeschrieben. Andreas Altmann, der den Lyrik-Workshop in Vollradisroda
leitete, gab dir Aufwind. Nun ist er da, dein Erstling: „Radios mit Naturstimme“, erschienen 2023 im dr. ziethen verlag Oschersleben.
Und für diesen Erstling nimmst du heute hier den Klopstock- Förderpreis des Landes Sachsen-Anhalt entgegen. Was für eine Freude, was für eine Anerkennung. Ich gratuliere dir herzlich!
Dein Weg hierher führte nicht über ein Dasein als Bibliothekarin - du wurdest zunächst Verkäuferin, studiertest dann Landschaftsnutzung und Naturschutz und arbeitetest danach als Umweltpädagogin,
PR-Assistentin und Auftragstexterin. Die Zeit zwischen Büchern in Bibliotheken und Archiven hast du als schönste Zeit bezeichnet. Du habest dort Zugang zu Informationen, zu Fakten, auch in
Gedichten müsse es stimmen, was die Fakten betrifft.
Ich zitiere:
„Der Pulsschlag des Blauwals
stille Meditation
neunmal pro Minute das Herz
groß wie ein Unterstand
man könnte darin den Schnee
überdauern einst
ging der Wal als Indohyus
ins Wasser Komik
in den Wendungen der Natur
Fuchs wird Tiefseeriese
Rudimente von Beinen
überraschende Umwege
der Evolution Fragen nach Gott“
Die Natur spielt in deinen Texten eine sehr große Rolle. Du seist aber keine Naturlyrikerin, sondern eher der confessional poetry zuzuordnen, confession für Eingeständnis oder Beichte, in der die
Distanz zwischen lyrischem Ich und Verfasserin sehr gering ist.
Und da sind wir bei Klopstock, dem hier in Quedlinburg vorgestern vor 300 Jahren geborenen Begründer der Erlebnisdichtung und wichtigen Vertreter der Empfindsamkeit. In der Empfindsamkeit war es
nicht mehr verpönt, Gefühle wahrzunehmen und sie ins Werk fließen zu lassen. Klopstock stellte das Rationale zugunsten der Intuition hintan; Irrationalität bedeutet hier, dass die menschliche
Vernunft keine ausreichende Erkenntnis der Welt erlangen kann.
Hier fügen sich zwei Fäden zusammen, die sich doch nie gänzlich verweben lassen: die Sinneseindrücke und das Ergründen des Wesens der Dinge. Und diese winzige Inkongruenz von Wirklichkeit und
Wahrnehmung, das Scheitern auf dem Weg zum letzten Urgrund der Dinge zieht sich durch dein gesamtes Buch.
Deine Lyrik, liebe Manuela, ist gespeist aus der dich umgebenden Natur der Oberlausitz - deinem derzeitigen Wohnort - und den Eindrücken, die sie auf dich ausübt, gepaart mit deinem Menschsein in
seiner allumfänglichen Verletzlichkeit und seinem Wissenwollen. „nachts sitzt sie über den Atlanten und studiert den Bauplan zahmer Fische“.
Du sagtest mir, dass du die „Zerbrechlichkeit des Menschen im Gegensatz zur Beständigkeit der Natur“ siehst.
In vielen deiner Gedichte setzt das lyrische Ich sich in Beziehung zu Tageszeit, Jahreszeit, den sensorischen Empfindungen. Da ist es feucht, Saft rinnt, Tierlaute, Fell, Federn, Nebel,
Reflexionen, Gülle neben Perlen. Beobachtung wird Assoziation wird Wunsch wird Beobachtung wird Feststellung. Die Texte mäandern zwischen knallharter Realität und magischer Imagination. „Pathos?
Ja bitte!“ hast du gesagt, aber es ist nie ungebrochen.
In „Christmond“ heißt es:
„Ein Kind liegt rücklings im Püree
aus Schnee und Salz und kalter Asche
es wedelt mit gestreckten Armen
einen Engel in den Brei“
Da ist öfter etwas, was die Idylle unterwandert, fein, unmerklich, oder wie in SCHNAPPSCHUSS ’86 detailliert benannt:
„Auf jenem späten John Waterhouse
sitzen im selben Boot
Mutter Tante ich drei nackte Nymphen
einander zugeneigt ideal
komponiert vom Blick
meines Vaters durchs Objektiv
mythisch entrückt
nur das kreuzende Ruder im Vordergrund
und der Vorfall bei Prypjat
stören die Harmonie“
Deine Sprache ist knapp, präzise, es gibt keine strengen Formen, keine größere Formenvielfalt, meist sind die Texte in einem einzigen Block gesetzt, die Zeilenumbrüche verleihen ihnen etwas
Amorphes - man wird beim Lesen immer wieder aus dem Rhythmus geworfen, man kann sich nicht einlullen.
Hinter der Schönheit wartet Schmerz wartet Zusammenbruch wartet Unausweichlichkeit wartet Wunsch wartet Schönheit. Lyrik als Überlebensmittel.
Die Gedichte haben durchgängig eine wunde Innenseite. „ich weiß nicht/an welchem Tag die Feder/in meinem Uhrwerk sprang“ heißt es im letzten, „van Goghs Mandelblüten“ überschriebenen Kapitel des
Buches.
Der Phantasiesprung vom Realen in ferne Sphären findet sich zum Beispiel hier:
„nackt
und wenn es der Himalaya wäre
gefiedert mit buschigen Pinien
eine Bergkette der Anden oder
der Rückenkamm eines Stegosaurus
verschwommene Bogenkontur
im Dunst eines Septembermorgens
Wimpernschlag im kosmischen Raum ich
das gewundene Handtuch
im Genick“
In BOWIES STERNE heißt es: „Wer weiß, was der Anblick galaktischer Nebel in Gehirnen bewirkt“.
Im Gedicht STIEFMÜTTERCHEN finden wir „diese Affinität zu allem, was das Gehirn manipuliert“, „der Rauch kratzt im Hals wie immer“, ein ganzes Kapitel heißt „Nikotin“, es gibt „Dopamingeflacker“,
„Paranoia im Quadrat mal Ypsilon“, „das Fenster auf Kipp alles schwimmt.“
Schmucklos und liebevoll der Zyklus DEFEKTE über Menschen auf der psychiatrischen Station, fein beobachtet, mit wenigen Federstrichen gezeichnet.
Die Liebe zur bildenden Kunst ist ebenso Thema - Dürer, van Gogh, Radziwill, die Präraffaeliten tauchen auf, David Bowie, Kurt Cobain, Tschaikowski, „zu viel Debussy“ - wie die Endlichkeit allen
Lebens.
„Ich habe das Gehenlassen geübt
an jungen Vögeln und Katzen
in weißen Räumen im scharfen Geruch
von Desinfektion
einmal zertrat ich ein sterbende Maus
nach Tagen noch spürte ich
ihren Körper unterm Schuh
sanfte Wölbung
über die ich beim Gehen abrollte
und die verletzte Schlange
deren Kopf ich zertrümmerte
liegt sicher noch heute in der Wiese
auf die ich sie trug
filigranes Skelett
es ist nicht so
dass ich mich daran gewöhnte
ich lernte es nicht
wie all die anderen stummen Vokabeln
des Lebens eine blutige Anfängerin
werde ich sein
im letzten Moment
wer hätte den Mut mich hinüberzutragen
und wer das Recht es zu tun“
Liebe Manuela, ich schätze deine ruhige Art, Kritik zu äußern, wenn wir über Texte diskutieren, deine Selbstreflexion, deine Unterscheidungskraft, wenn es um Notwendiges und Überflüssiges geht.
„Kill your darlings“, schmeiß’ deine Lieblinge weg -, das habe ich von dir gelernt, den Blick aufs Werk aus einem Abstand, der es ermöglicht, Form und Inhalt auf Gültigkeit zu prüfen.
Dein Weg zu diesem Punkt heute hier war lang und ist beileibe nicht zu Ende, denn du erhältst einen Förderpreis, Aufwind, Ermutigung, Bestärkung und Anerkennung.
Du batest mich, heute hier diese Laudatio für dich zu halten. Ich danke dir für dein Vertrauen und für die Gelegenheit, nochmals tief in dein Schreiben einzutauchen.
Bitte weiter so. Oder so ähnlich. Oder ganz anders. Bitte iss „Futter mit Sprechperlen“, bitte trage „das Licht im Schnabel“.
Lyrik als Überlebensmittel? Lyrik als Lebensmittel.
Alle Textstellen in Anführungszeichen sind Zitate aus Manuela Bibrachs Buch „Radios mit Naturstimme“ oder von ihr mündlich verwendete Äußerungen.
Das Eingangsgedicht stammt von Anna Zepnick und wird im September im Band „rabensingen“ im Poetenladen Leipzig erscheinen.
Fehlercodes und Schmackaduzien
Zu Manuela Bibrach »Radios mit Naturstimme«
Marcus Neuert, Juni 2024
Die 1971 in Dresden geborene und heute in der Oberlausitz lebende Lyrikerin und Prosaautorin Manuela Bibrach hat schon seit Jahren viele Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und
Anthologien gehabt und auch etliche Preise gewonnen, so etwa beim Feldkircher Lyrikpreis oder beim Irrseer Pegasus. Auch ein Stipendium des Freistaates Sachsen in Breslau erhielt sie im Jahr
2018. Bisher gab es allerdings von ihr noch keine Einzelveröffentlichung, sieht man einmal von einem ihren Gedichten gewidmeten schmalen Heft aus der Reihe der »Zündblättchen« ab, welches 2016 in
der Edition Dreizeichen in Meißen erschien. Diesem Mißstand hat nun mit dem Band »Radios mit Naturstimme« der Verlag von Dr. Harry Ziethen in Oschersleben abgeholfen, in dessen
Literaturzeitschrift »oda – Ort der Augen« Bibrachs Gedichte schon des Öfteren vertreten gewesen waren.
Ein gelungenes Zusammenspiel der Gedichte Manuela Bibrachs und der Zeichnungen des Berliner Künstlers und Verlegers Pètrus Akkordéon zeichnet den Band aus, der im Oktober vergangenen Jahres
aufgelegt wurde. Ins Auge fällt eine surreale Verspieltheit sowohl der Texte als auch der Bilder, wie etwa in Bibrachs letztem Buchkapitel, welches sich auf Gemälde unterschiedlichster Epochen
bezieht: Der Kapiteltitel »van Goghs Mandelblüten« kontrastiert mit Akkordéons Sonnenblumen, die eindeutig den Charakter von Totenschädeln vermitteln: als ob sich die unterschiedlichen
künstlerischen Räume zuweilen mit gewollt gegensätzlichen semantischen Anspielungen ineinander übersetzten.
Der Buchtitel »Radios mit Naturstimme« scheint auf den ersten Blick menschengemachte Kommunikationstechnik und die sich akustisch manifestierenden Phänomene des Ursprünglichen, Nichtmenschlichen
zusammenzuführen. Doch wirft diese naheliegende Rezeption auch Fragen auf: Benötigt denn die aus den Gedichten sprechende Natur überhaupt ein gesondertes Medium, um sich mitzuteilen? Ist dem
modernen Menschen das Ohr endgültig abhandengekommen angesichts der den Sehsinn überschwemmenden Bilderflut seiner Epoche? Ist das Ohr tatsächlich verloren für alles, was leiser ist als der
Grundsound der eigenen Geschäftigkeit und der selbstverliebten Pseudo-Relevanz, leiser als die treibenden Beats und die Kakophonien eines selbst abseits der Metropolen urbanisierten
Daseins?
Genauso stellt es sich wohl dar, und deshalb braucht es das »Radio«, vielleicht sogar gerade in Form des so leise daherkommenden Gedichts, als Metapher für eine Vermittlungsinstanz, den
Verstärker für das lautliche Jenseits der Sphäre, in welcher sich der vermeintlich zivilisatorisch hochgerüstete Mensch heute mehrheitlich befindet. Die direkte Wahrnehmung des Natürlichen
scheint gänzlich aus dem Bereich des Vorstellbaren verschwunden zu sein in der jahrzehntelangen Gewöhnung an das medial Vermittelte, das stets mehr braucht als nur Schallquelle, Luft und Ohr, um
die Grenzen des Wahrnehmbaren zu überwinden. Das Geräusch, der Subtext der Natur, erfährt in seiner Medialisierung jedoch auch eine Transformation; es erhält nicht nur eine sinnliche und eine
semantische Zuschreibung, zugleich deutet es sich um und es wird umgedeutet. Die »Naturstimme« erreicht uns durch ihre »Radios« eben gerade nicht mehr als Natur, sondern als permanente
anthropologische Überformung. Das lyrische Programm hinter dem provokanten Titel Radios mit Naturstimme ist so auch ein Spiel mit dem vielzitierten McLuhanschen Diktum »the medium is the
message«, als riefe Manuela Bibrach dem kanadischen Meisterdenker zu: »No, nature is the message behind all mediation«. Bibrachs Texte machen gerade auch auf diese Wechselwirkungen aufmerksam,
die sich bei ihr freilich aus einem profan-sinnlichen Reizkonvolut in feine lyrische Bilder erzeugende Sprachkunst übersetzen.
Immer wieder begegnen wir ungewöhnlichen Blickwinkeln und Bezügen in den Gedichten von Manuela Bibrach, etwa dem Weltuntergang aus der Perspektive einer Sternschnuppe oder dem »Schnappschuss
’86«, welcher eine Familienfotografie und ein Bild des Präraffaeliten John Waterhouse lyrisch melangiert und die nur scheinbar unschuldige Idylle durch die wie beiläufig eingestreute Erwähnung
der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl gebrochen wird. Eine recht eigenwillige Gestaltung der Versumbrüche in Bibrachs Texten schafft oft mehrdeutige Sinnzusammenhänge, und phonetisch reizvolle
Neologismen wie »du tiriliebst mich« oder die lautmalerischen »Schmackaduzien« sorgen für einen lyrischen Duktus von nicht selten hohem Wiedererkennungswert.
Doch auch die Vereinzelung der menschlichen Existenz ist Bibrachs Thema, durchaus auch jenseits eines Bezuges zu wie auch immer gearteter und medialisierter Natur, was etwa in den beiden
mehrteiligen Gedichten Shit Box (»das ist was uns verbindet / Paranoia im Quadrat mal Ypsilon / plus Angst vor klebrigem Direktkontakt«) und Defekte (»… sitzt A auf der Terrasse kritzelt / seinen
Namen und Adresse / auf Kuverts die er / verteilt an alle die / sich nicht dagegen wehren«) zum Ausdruck kommt.
Auch wenn eine nur angedeutete Harmonie besungen wird, so fehlt doch nie ein Element des Zweifels, des Gegensatzes, ja gar der Zerstörung: »[…] weißt du noch / wie es plötzlich still wurde / (wir
hatten gerade ein paar / Mandarinenten ausgesetzt – reizend / vor allem die Männchen) / als unvermittelt eine Kastanie / einschlug detonierte / und alles verschwand«.
Die lyrische Welt der Manuela Bibrach ist jedoch keine larmoyante Klage über irdische oder menschliche Unvollkommenheit, sondern ein genaues Hinsehen, ein Arrangement treffsicherer Metaphern, die
im Ganzen ein merkwürdig adliges Gefühl hinterlassen: als habe sich im Kleinen Großes abgespielt, als stünden die beschriebenen Ereignisse im unwiderruflichen Zusammenhang mit dem Weltgeschehen,
als seien sie »fragile Signale« für die Gesamtheit des Lebens und der Welt.
Manuela Bibrach: »Radios mit Naturstimme«, Gedichte mit Grafiken von Pètrus Akkordéon und einem Nachwort von Patrick Wilden, dr. ziethen verlag, Oschersleben 2023, 96 Seiten, 20 Euro, ISBN
978-3-86289224-2.
Anna Zepnick, Dezember 2024
Manuela Bibrachs Debüt kommt spät und trotzdem genau richtig.
Wir können uns auf über achtzig Seiten eine Lyrik einverleiben, die durchgängig eine wunde Innenseite hat.
Einverleiben auch insofern, als dass die Gedichte alle etwas sehr Körperlichem entspringen, mit dem ganzen Körper empfunden zu sein scheinen.
Bibrach (*1971) hat sich ihre (Um-)Welt anverwandelt. „und wenn es der Himalaya wäre/gefiedert mit buschigen Pinien/eine Bergkette der Anden oder/der Rückenkamm eines Stegosaurus/verschwommene
Bogenkontur/im Dunst des Septembermorgens/Wimpernschlag im kosmischen Raum ich/das gewundene Handtuch/im Genick“. Immer wieder verortet sie sich im Raum - auch dem Weltenraum - , beobachtet,
setzt sich in Beziehung zu Tageszeit, Jahreszeit, den sensorischen Empfindungen. Da ist es feucht, Saft rinnt, Tierlaute, Fell, Federn, Nebel, Reflexionen, Gülle neben Perlen. Beobachtung wird
Assoziation wird Wunsch wird Beobachtung wird Feststellung. Die Texte mäandern zwischen knallharter Realität und magischer Imagination. Ganz stark ist - finde ich - das Kapitel DEFEKTE: acht
Miniaturen über Menschen auf der psychiatrischen Station. Schmucklos und zugleich liebevoll.
Ebenso die SHIT BOX; ein Einblick ins „Dopamingeflacker“, „…ich werde lügen/lernen kleine Grausamkeiten/üben die Insekten auf der Windschutzscheibe/nicht mehr als Metapher denken/nicht mehr
sterben jeden Augenblick in dem/ein andres stirbt…“
Sie schreibt über Gemälde, Tiere, über Songs, über die Begegnung mit einem Exhibitionisten, „der plötzlich auf der Brücke steht/und seine Hose öffnet lacht/auf diese Handvoll Fleisch“, über
erste, zweite und dritte Lieben. Ihre Sprache ist knapp, präzise, die Zeilenumbrüche verleihen den Texten etwas Amorphes - man wird beim Lesen immer wieder aus dem Rhythmus geworfen, man kann
sich nicht einlullen. Hinter der Schönheit wartet Schmerz wartet Zusammenbruch wartet Unausweichlichkeit wartet Wunsch wartet Schönheit.
Dazu gibt es ziemlich geniale Grafiken von Pètrus Akkordéon.
Anna Zepnick, 28.12.2023
Podcast zum Sächsischen Bücherkoffer 2023
Dr. Steffen M- Diebold, Dezember 2023
Liebe Manuela,
nun habe ich doch nicht bis zur Bescherung durchgehalten sondern fast täglich mal in Deinen Radios mit Naturstimme geblättert. Starke Gedichte. Allesamt!
Die konzise und dicht verfassten Defekt-Gedichte beispielsweise liefern (auch ohne Angabe eines Diagnoseschlüssels) ganz präzise und doch stets poetische Beschreibungen des jeweiligen
Krankheitsbildes. Durchweg herrscht ein hohes Niveau in allen Kapiteln Deines Lyrik-Bandes. Aber selbst dieses noch überragend sind, außer den letzthin schon genannten Mondgedichten, zwei ganz
erstklassige Preziosen (!):
Gesang der Amsel im Winter * und Hallo mein Freund ... (Shit Box V)
Diese beiden lyrischen Kompositionen singen förmlich, wirken schwebend leicht und buchstäblich "frei flottierend". Sie ziehen den Leser in einen poetischen Strudel. Ich kenne derzeit unter der
zeitgenössischen Lyrik nichts Besseres. Technisch brillant und, wenngleich in Stil und Sprache völlig anders, (mindestens) auf dem Level eines bei Suhrkamp verlegten Ch. Lehnert ("Sie ist mir
eingegeben, die Libelle ...") oder des bei Hanser/Fischer publizierten Büchnerpreisträgers Jan Wagner.
Aber Geschmack ist natürlich immer auch individuell. Nicht individuell, sondern objektiv kunstvoll, ist Deine meisterhafte Verwendung des Apokoinou in allen Varianten:
- klassisch (S. 78): "die lastende Stille dort / (dort) stehe ich noch heute ..." ; (S. 70, F 32): "auch die Patienten jetzt / (jetzt) liegt sie auf ihrem Bett ..."
- in Kettentechnik (S. 68, F 32): "... vier Monate natürlich nicht / natürlich nicht zum ersten Mal / nicht zum ersten Mal gesprungen ..."
- oder auch mit vollständigen Satzteilen (S. 38): "warm ist meine Haut als ich die Lider hebe / als ich die Lider hebe schwimmt der Himmel in Pastell ..."
Der Verzicht auf jegliche Kommata ermöglicht/unterstützt dies und ist natürlich keine Dichtermarotte, sondern poetologisch wohl begründet. Beim ersten Lesedurchgang ist man überrascht, was in der
nächsten Zeile folgt und rekurriert damit zwangsläufig nochmals auf die vorangehende.
Sparsam dosierte Neologismen wirken in ihrem Umfeld so selbstverständlich, als existierten sie bereits in Alltags- oder Volkssprache. Zu meiner Schande als Apotheker und als Lyriker musste ich
die mir unbekannten "drallen Schmackaduzien" auf S. 12 /45 sogar nachschlagen und bin mir selbst jetzt noch nicht sicher, ob Du auf den Geschmack gekommen bist oder es sich bei der Anspielung auf
Else Lasker-Schüler um eine Schreibvariante (a/e) handelt? Jedenfalls ist die a-Schreibweise ebenfalls passend. ;-)
Die wunderbaren Metaphern und Bilder ("lastende Stille"; "Himbeersprudel"; "als ich die Lider hebe schwimmt der Himmel in Pastell ...") sind überaus plastisch und ausdrucksstark. Auch die
Verwendung des Zeilenumbruchs ist äußerst wirkungsvoll, zuweilen sogar erheiternd (S. 45 .. "ich will ein Kind du nicht Ameisen ..."). (Binnen-) Alliterationen ("Bleisoldatenriege räumen" ...)
u.v.a. mehr wären zu erwähnen. "Mein Raumschiff" ... (S. 55) schwebt buchstäblich "wie der Wal [durch] den Krill" und desgleichen luftig springt auch "ein Kind mit leichten Füßen ... über alles"
(S. 37). Um dieses Schwebens und des (metrischen) Flusses willen war ich (in Gedanken) manchmal sogar versucht, Worte im Satz umzugruppieren (Defekte F 34: aber beim Töpfern ... / zu: beim
Töpfern aber ...). Doch Deine Version zählt natürlich und für sie spricht jeweils einiges ...
Glückwunsch also nochmals zu Deinem gelungenen Buchdebüt! Ich bin sicher, es folgen weitere Arbeiten :-)
Dr. Steffen M. Diebold / Klein-Posemuckel, den xx.12.2023
Frau Tistic, Oktober 2023
Liebe Manuela Bibrach,
diese Woche waren all meine Empfänger auf Sie gestimmt, ich habe Ihre „Radios mit Naturstimmen“ gelesen. Ich war nicht erstaunt, als ich am Ende erfuhr, dass Sie nicht nur Dichterin, sondern auch
Diplom-Ingenieurin für Landschaftsnutzung und Naturschutz sind, die Nähe zur Natur ist in all Ihren Texten erlebbar. Sie beschreiben sie so liebevoll und vor allem auch so genau, dass beim Lesen
keine Zweifel darüber bleiben, dass Sie ebenso genau wissen, worüber Sie schreiben. Dass Sie nicht nur Beobachterin sind, sondern in einem innigen Dialog mit der Natur zu leben scheinen, vielmehr
eins mit ihr sind. Sie scheinen aus der Natur herauszuschreiben, als übersetzten Sie für uns: das Naturradio aus dem Ihre poetische Stimme klingt. „früher hielten die Leute / Waldvögel kleine /
Radios mit Naturstimme“; und heute lesen wir Ihre Gedichte. Diese Texte, die scheinbar zufällig zwischen Kindheit, Gegenwart, mentaler Gesundheit, Alltagserfahrungen und Kosmos wechseln, werden
immer von diesem einen verbindenden Element zusammengehalten: der Natur. So der Singsang der Amsel und die Wortschöpfungen am Anfang, vielmehr die Übersetzung des Tieres, „ich weiß du tiriliebst
mich weil ich lardioliü / das Licht dijulitirio im Schnabel trage“. Davon hätte ich in diesem Buch sehr gerne noch mehr gelesen, ich finde diese poetischen Auswüchse einfach: toll. „Manuela
Bibrach ist Dichterin durch und durch“, schreibt Patrick Wilden dazu im Nachwort, „Gedichte zu schreiben ist ihre Form zu sprechen.“ Und tatsächlich, ich auf meinem Sofa bei Tee zu goldenem
Licht, sitze und lese, und über ihre Gedichte spricht Manuela Bibrach mit mir. Texte, die sich so wohlig in die kommenden, mir so teuren Herbst- und Adventstunden einfügen, „wo Mais stand peilen
meilenweit gekappte Stängel / in schnurgerader Linie den November an / ein Ahornbaum verglüht“. Und in den Gedichten zur Kindheit, finde ich immer wieder eigene Erinnerungen an Gewässer und
Verstecke wieder. Dort, wo eine Kindheitsidylle sich regelmäßig an Schreckensbildern oder unschuldiger, infantiler Grausamkeit bricht. Und sich doch auch alles Düstere in dieses vergangene Idyll
irgendwie einfügt, das Morbide, weil wir Kinder auch das irgendwie liebten.
Und weiter die beklemmenden Betrachtungen zur mentalen Gesundheit, „und ich / Teil meiner eigenen / Erinnerung dieser / Mangel an Präsenz“; „bin ich fensterlos / wunschlos müde / gebe ich die
Sterne frei / trag meinen Schlaf / ein murmelndes Kind / leise ins Bett“. Und in denen die Verbindung zur Natur teilweise ganz fehlt, als wäre diese die Ursubstanz um mental gesund zu
bleiben?
Am meisten überzeugt hat mich wohl der Rhythmus der Sprache, den ich als besonders gekonnt gesetzt empfunden habe. Vielleicht ist es auch nur das Wissen über die Nähe zur Musik der Autorin,
weshalb mich beim Lesen das Bild eines Zeigefingers auf der Tischplatte begleitet, der wie ein Metronom jeder einzelnen Zeile den Rhythmus vorklopft?
Und an diesen Rhythmus schmiegen sich die Illustrationen von dem, von mir aus der Ferne verehrten Petrus Akkordeon: eine schöne Überraschung seine unverkennbaren Bilder darin zu finden. Die Wahl
für das schlichte Schwarz/Weiß zeichnet sich in diesem Band besonders aus. Liebe Manuela Bibrach und lieber Petrus Akkordeon, vielen Dank für dieses wertvolle Buch. Das hier auf meinem Teetisch
liegt und mich diesen Winter begleiten wird. Patrick Wilden hat Recht: Manuela Bibrach ist eine wahre Dichterin und ihr Buch wahre Dichtkunst. „Mittsommernacht / Der Hahn putzt der Sonne den
Scheitel / die Katze am offenen Fenster / hängt ihren Blick / in die Zweige / des Kirschbaums heller / leuchten die Häuser nie / eine Nachtigall schüttelt Jubel / aus ihren Federn / Perlen“. Und
zum Ende meine liebste Stelle: „Dieser Morgen ist ein Kind / das mit leichten Füßen / über alles springt / was schwer am Boden liegt“.
Manuela Bibrach: „Radios mit Naturstimme“, mit Illustrationen von Petrus Akkordeon, Dr.ziethen verlag Oktober 2023
Dr. Steffen M. Diebold, April 2021
Manuela Bibrachs Lyrik ist im Wortsinn hervorragend. Sie folgt nicht den Moden und Attitüden der meisten Dichtung, die heute als zeitgenössisch gilt – und ist dennoch modern. Ihre Autorin spricht
eine authentische Sprache. Die Metaphern und Bilder sind originell, zuweilen überraschend.
Kollegin Bibrach ist stilsicher, hat inhaltlichen Tiefgang und geht souverän mit Rhythmus und Metrum um. Ich habe Ihre Lyrik eher zufällig entdeckt und bin gespannt auf ihren ersten
eigenständigen Gedichtband!
Kommentar vom 4.4.2021 zum Interview auf Literatur-Outdoors